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Otaku, Japans Identitäten im Wandel

Otaku, Japans Identitäten im Wandel | ORYOKI

Japan ist tief verwurzelte Geschichte voller Traditionen und Mythen. Modernes Japan ist Futurismus pur, welcher mit alltäglichen Strukturen bricht. Durchwandert von Gestalten, die mittels Expression friedlich aufbegehren und sich neue Freiheiten erkämpfen, im Spiel und im realen Leben.

Otaku – Ein Begriff stiller Revolution

Immer mehr junge, wie auch ältere Japaner wandeln zwischen zwei Welten. Eine, die den vorherrschenden Normen der japanischen Gesellschaft entspricht und eine, die diese aufbricht. Keineswegs scharf abgetrennt transformieren sich zunehmend mehr Personen im alltäglichen Fluss der Dinge zum Otaku (お宅 おたく; ausgesprochen Owtakoo). Der Begriff, welcher 1983 durch Nakamori Akio zuerst Erwähnung fand, hat einen solchen Wandel selbst erfahren. Begünstigt durch das Streben nach Freiheit ist seine negative Bedeutung einer positiven gewichen. Übersetzt wird Otaku in manchen Medien mit Haus und stand vielen Medien zufolge ursprünglich sinnbildlich für Besessenheit und damit verbundene Isolation Zuhause.

Man könnte an dieser Stelle an den Hikikomori denken, doch entgegen diesem verblieb der frühe Otaku, der ursprünglich primär männlicher Natur war, freiwillig in den eigenen vier Wänden. Hier folgte er seinem Hobby in schierer Obsession: dem Fandom von Anime (アニメ あにめ = japanische Animation), z.B. von Gainax, einer der bekanntesten Produktionsfirmen Japans, und dem des Manga (漫画 まんが = japanische Comics). Via Bild, Buch und Quiz, Serie, DVD sowie Blue Ray, Videospiel, Internet als auch Twitter und Co. frönte er seiner Vorliebe und empfand seine selbstgewählte Isolation nicht als negativ oder belastend, sondern als Rückzug in eine andere Realität. Eingebettet zwischen Postern und Fan-Artikeln, wie bspw. T-Shirts, flohen Otaku-Girls und -Boys vor Überarbeitung, Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Sorgen, die das gesellschaftliche Dasein gefährdeten. Ein Hintergrund, der auch heute noch Bestand hat, während die Ausmaße des Otaku-Lebens das reale längst gesprengt haben. Abzugrenzen ist der Otaku daher vom einfachen Anime-Enthusiasten, dessen Konsum sich in Grenzen hält und die eigene Identität nicht weiter beeinflusst.

Hikikomori|Blog im Japan-Magazin lesen »

Auch der unmittelbare Bezug zum Serienkiller, Tsutomu Miyazaki, aus dem Jahr 1989 hat seine Bedeutung lange überschattet. Seine erhebliche Sammlung an Animes und Mangas brachte ihm die Bezeichnung Otaku-Killer ein. Die Außergewöhnlichkeit des vierfachen Mädchenmords, welcher Nekrophilie, Kannibalismus und Vampirismus umfasste, legte die Vermutung einer Verbindung zu dieser Obsession nahe, welche fachlich aber nie bestätigt wurde. Eine naheliegendere Begründung für die Taten ist die psychische Verfassung, in welcher sich Miyazaki befand. Doch für die Medien damaliger Zeit musste eine schnellere und weniger komplexe Erklärung her. Technik und das, was sie ermöglicht, werden hier auch heute noch nur all zu gerne als Sündenbock herangezogen.

Schatten der Vergangenheit, die mittlerweile lange zurückliegen und sich durch neue begriffliche Abgrenzungen, wie jene des Hikikomori, aufgelöst haben. Mit jedem Jahr Abstand und der bunten Fülle an Otakus im ganzen Land und über dessen Grenzen hinaus, schwindet die negative Konnotation und mit ihr ihr Stigma. Der Otaku ist aufgeblüht und lebt auf einzigartige Art und Weise die tief verwurzelten Mythen einer ganzen Kultur, weshalb ihm heute breite Akzeptanz entgegengebracht wird. Unterstützt wird dies durch die seit den 1990er Jahren steigende Öffentlichkeit, welche der Subkultur immer mehr Fans bescherte und das Wort Otaku in seiner Definition neu umschrieb. Diese bezeichnet heute eine Person, die ihre Fan- und Fluchtwelt in die Realität verschoben hat und offen auslebt. Die dazu steht anders zu sein, stolz darauf ist und ihr eigenes Glück selbst erschafft.

Persönlichkeitsentfaltung statt Manga-Fandom

Otakus noch länger als große oder gar extreme Fans zu beschreiben, wäre vor diesem Hintergrund zu kurz gefasst. Der Unterschied zwischen beiden Kategorien ist, dass Letzterer ausschließlich um materielle Güter kreist und Ersterer darüber hinaus über breites Wissen innerhalb seines Interessenbereiches verfügt und in der Lage ist, mit diesem spielerisch umzugehen. Kreativer Ausdruck ist hier wesentlich und wird in der Community hoch geschätzt. Otakus verleihen der Vision ihrer Idole, z.B. Hayao Miyazaki, daher häufig Flügel, interpretieren Werke, wie Sword Art Online oder Sailor Moon, um. Sie verändern Kunst, statt sie nur zu konsumieren, was in Japan Nijisousaku (二次創作 = Sekundärproduktion) genannt wird. In diesem Falle keine Sache von Urheberrechtsverletzung, da die Subkultur breite Akzeptanz erfährt und längst fester Bestandteil der japanischen Kultur ist. Auch werden gerne eigene Werke kreiert, z.B. Dojinshi (同人誌 = Magazine), geschaffen für Gleichgesinnte und veröffentlicht im Selbstverlag. Ein Otaku zu sein bedeutet daher neben sozialer Teilhabe auch Teil einer Kunstform zu sein sowie aktiven Austausch hierüber, sprich: gelebte Interaktion. Vor diesem Hintergrund ist die Übersetzung dein Haus oder deine Familie wesentlich zutreffender. Wer daher in den eigenen vier Wänden in einer fremden Welt verschwindet, kehrt so gesehen in der Begegnung mit sich selbst heim. Das ist innere Freiheit per Definition.

Junge Japanerin Cosplay

Im Dschungel der Begrifflichkeiten

Ausdruck solcher Freiheit sind Orte wie Akihabara oder Nakano Broadway in Tokio. Mit ihren Dienstmädchen-Cafés, Live-Conventions, Spiel-Centern und mannigfaltigen Veranstaltungen sind sie heutiger Inbegriff der Vielseitigkeit moderner Otakus. Diese sind längst keine verschlossenen Manga- und Anime-Junkies mehr, sondern umfassen individuellen und öffentlichen Ausdruck von Passion, von lustig, über ästhetisch bis frivol. Manche versinken in Filmen (Anime-Otakus), andere in Comics (Manga-Otakus) oder Games (Videospiel-Otakus), wieder andere haben im Sammeln von Figuren (Figuren-Otaku) o.Ä. ihren Spaß gefunden. Wieder andere hauchen ihren Lieblingscharakteren in sogenannten Cosplays (コスプレ こすぷれ = sich kostümieren) realen Geist ein. Hier schlüpft man mit aufwendiger Kostümierung in andere Identitäten (Cosplayer oder Cosplay-Otakus) oder begegnet diesen auf Conventions. In manchen Fällen sind es nicht die Charaktere, denen man anhängt, sondern ihre Synchronsprecher, die die Seiyu-Otakus im wahrsten Sinne des Wortes mit ihren Stimmen umgarnt haben. Wota oder Idol-Otakus hingegen sind solche, die uns im Westen vermutlich noch am ehesten bekannt sind. Sie favorisieren Pop-Idole und folgen ihnen auf Konzerte und Meet-and-Greets. Die Übergänge zwischen den verschiedenen Typen sind fließend, so dass ihre dynamischen Grenzen immer wieder neu entdeckt werden können.

Im Grunde macht jede intensive Auseinandersetzung mit einem spezifischen Thema die Otaku-Welt aus, deren Interessenlandschaft facettenreich ist und weitestgehend wertfrei, denn man feiert mit wilder Leidenschaft, gemeinsam und gar nicht einsam, die Freiheit, man selbst sein zu dürfen. Ein Umstand, der internationale Begeisterung auslöst, Touristen anlockt und Menschen, die der westlichen Welt entfliehen möchten, um sich im Otaku-Mekka selbst zu finden. Äußere Freiheit entsteht in Aktion.

Cosplay Mädchen mit pinken Haaren und pinken Fellohren
Pikachu Maskottchen
Anime Plastikfiguren
Cosplay Mädchen mit blauen Haaren

Vorbehalte und Werturteile

Jeder kann und darf ein Otaku sein. Nicht-Japaner dieser Kategorie, die sich sehr stark für die japanische Kultur interessieren, werden von außenstehenden Personen allerdings gerne als Wheeaboos oder Wheebs bezeichnet, was ursprünglich von Wapanese kommt, einer Zusammensetzung aus white und japanese. Die Bedeutung ist eher negativ geprägt. Nicht-Kenner bezeichnen mit dem Begriff die Andersartigkeit der Subgruppe, welche für manch einen mit Befremdlichkeit einhergeht. Dies ähnelt dem früheren Gebrauch der westlich geprägten Begriffe Nerd bzw. Geek, Kategorien mit denen der Otaku gerne gleichgesetzt wird. Längst haben auch diese Subgruppen in ihrer Bedeutung einen Aufwärtstrend erfahren.

Ebenfalls negativ gerahmt ist der offene Umgang mit sogenannten Hentais, der pornografischen Fassung klassischer Manga- und Anime-Kunst. Die sexualisierte Form der Idole wird eher unter Verschluss gehalten. Sex bleibt Sex und damit etwas Privates, was in der Öffentlichkeit kritisch gesehen und von manch einer Person gar als pervers bezeichnet wird. Dies aus ganz unterschiedlichen Gründen. Einer davon könnte feministischer Natur sein. Denn die weiblichen Charaktere werden entgegen der natürlichen Körperlichkeit der Frau übertrieben proportioniert und grundsätzlich mädchenhaft dargestellt, also kindlich, süß, liebenswert und dennoch attraktiv, was in der japanischen Sprache als kawaii bezeichnet wird. Umstände die als anstößig gelten können. Doch auch die sogenannten Boys' Love-Mangas bzw. -Animes stehen in Verruf, weshalb man ihre Otakus Fujoshi (腐女子 = verdorbene Frau) nennt.

Wolken am Horizont neuer Möglichkeiten

Die Schatten neu gewonnener Freiheit kreativen Ausdrucks werden dann deutlich, wenn man reale Menschen ins Virtuelle abdriften sieht. Manch einer vergisst gar seine eigene Körperlichkeit, verschmilzt mit Manga-Girls in irrealen Liebesbeziehungen und entführt diese zu realen Dates mit Cookies im Park. Hält Konversation mit ihnen, wie mit echten Menschen. Häufig fällt der Otaku hier zurück in die eigene Pubertät, seine virtuelle Freundin ist nicht älter. Es werden Träume ausgelebt. Die Teenager-Beziehung wird in den gegenwärtigen Alltag eingebunden, prägt ihn aktiv mit.

Hintergrund für diese Form von Flucht kann, wie Interviews aufzeigen, einerseits die strenge gesellschaftliche Norm der Heiratspflicht sein, welche mit realweltlichen Beziehungen einhergeht. Virtualität bedeutet Freiheit von Verpflichtungen und gesellschaftlichem Druck, dem man nicht standhalten möchte. Auch, weil das tatsächliche Familiendasein mit wirtschaftlichem Erfolg einhergeht, den viele Japaner glauben nicht erreichen zu können. Oder weil die Mehrfachbelastung von Haushalt, Mutterschaft und Karriere für Japanerinnen so gravierend ist, dass sie sich vor dieser schützen möchten. Dies führt dazu, dass sie sich in der Realwelt nicht mehr mit potentiellen Partnern treffen, was das Angebot auf dem Markt enorm senkt und einen Domino-Effekt erzeugt. Andererseits werden auch Traumata in den Medien geschildert, die durch Mobbing im Jugend- und Erwachsenenalter verursacht wurden oder das soziale Phänomen Hikikomori. Liebe per Klick macht Zuneigung und Nähe hier wieder möglich. Die Flucht in den virtuellen Orbit bedeutet Befreiung vom äußeren und inneren Erwartungsdruck, von Ängsten vielerlei Art. Vor diesem Hintergrund sind die Rate der Eheschließungen in Japan sowie die der Geburten (2 %) gravierend gesunken. Otakus befeuern den demografischen Wandel. Auch innerhalb echter Ehen fliehen manche Japaner und Japanerinnen in irreale Verhältnisse, entsagen echter Berührung für virtuelle Küsse. Ein relativ neues Phänomen vor dieser Entwicklung sind virtuelle Hochzeiten, in denen sich Otakus ihren Computerspiele- und App-Charakteren verschreiben, bis dass der Tot sie scheidet.

Das Phänomen der Otaku-Girls und -Boys gründet auf den wirtschaftlichen Herausforderungen und Überforderungen eines Landes, welches auf seinem Weg in die Moderne in alten Normen und Werten festhängt. Es bleibt die Frage, ob aus der neuen Berührungslosigkeit der japanischen Gesellschaft auch neue Entfremdung folgt oder sich eben diese in den individuellen Welten der Otakus auflöst, was echte Begegnung erst ermöglicht.

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